"Uns alle verbindet die Nächstenliebe"
14.03.2023
Alix Rehlinger über 37 Jahre in der sozialen Arbeit der Diakonie
Frau Rehlinger, nach mehr als drei Jahrzehnten in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der diakonischen Sozialarbeit verabschieden Sie sich Ende März vom Diakoniewerk Simeon. Wenn Sie zurückschauen auf die Anfangszeit: Woran erinnern Sie sich?
ALIX REHLINGER: Das waren spannende, aber auch schwierige Jahre. Die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben unsere soziale Arbeit ja ständig direkt beeinflusst. So hieß es in den 80ern, als viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon nach West-Berlin kamen, „das Boot sei voll“ und die Flüchtlinge erhielten über lange Jahre keinerlei rechtliche Anerkennung oder Unterstützung zur Eingliederung. Wir mussten sogar „Einzelanträge auf Beschulung“ für die palästinensischen Kinder stellen, da keine Schulpflicht für sie bestand. Bis heute sind diese Ausgrenzungen in den nachgewachsenen Familien spürbar.
Wann änderte sich das?
ALIX REHLINGER: Die Bundesregierung bekannte sich erst 2005 dazu, Einwanderungsland zu sein; Deutschkurse und Beratungsangebote für Neuzuwanderer wurden endlich landesweit etabliert. Gleichzeitig begannen wir in der Diakonie in Neukölln viele kleine Projekte zur Unterstützung von Familien umzusetzen, um eingewanderte Eltern zu beraten und damit Kindern frühzeitig Fördermöglichkeiten und verbesserte Chancen für den Schulerfolg zu vermitteln. Es entstanden ganz neue Perspektiven.
Die Sie entscheidend mitgestaltet haben.
ALIX REHLINGER: Im Jahr 2000 wurde ich mit der Fachbereichsleitung für Beratungsstellen und Migrationsprojekte im damaligen Diakonischen Werk Neukölln-Oberspree betraut und konnte gemeinsam mit Kolleg*innen fast 30 Projekte und Einrichtungen zur Unterstützung sozial Benachteiligter und eingewanderter Familien sowie zur „interkulturellen Öffnung“ konzipieren, aufbauen und begleiten. In unseren Migrationsberatungsstellen suchen heute im Schwerpunkt Menschen mit einer Fluchtbiografie aus Syrien, Afghanistan, der Ukraine, westafrikanischen Ländern Hilfe und Unterstützung; gleichzeitig wenden sich sehr viele EU-Bürger*innen aus Polen, Griechenland, Bulgarien und Rumänien an die Kolleg*innen.
Gibt es ein Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
ALIX REHLINGER: Mir liegen alle unsere Einrichtungen gleichermaßen am Herzen – jede einzelne ist wichtig für die vielen Rat- und Hilfesuchenden. Medial am erfolgreichsten war sicher das Projekt der „Stadtteilmütter“, das hier von uns in Neukölln entwickelt wurde und mittlerweile in allen Berliner Bezirken umgesetzt wird. Die Idee, arbeitslose Mütter nichtdeutscher Herkunft in den Bereichen Erziehung, Bildung und Gesundheit zu qualifizieren, damit sie ihre Kenntnisse als Multiplikatorinnen muttersprachlich an die Familien ihrer Community weitergeben können, war und ist sehr erfolgreich.
Mit 23 Stadtteilmüttern ging es 2004 los. Wie viele sind es heute?
ALIX REHLINGER: Insgesamt haben wir in den vergangenen 18 Jahren in Neukölln etwa 600 Frauen ausgebildet; aktiv sind zur Zeit über 80 Frauen, davon 46 in fester Anstellung, unterwegs in allen Neuköllner Regionen.
Der Fachbereich Soziales und Migration ist insgesamt sehr bunt zusammengesetzt: Die rund 120 Mitarbeitenden sprechen eine Vielzahl von Sprachen. Sie haben unterschiedlichste religiöse Bekenntnisse, sind in weit entfernt liegenden Ländern, in West- oder Ostberlin, im Süden oder Norden Europas aufgewachsen oder als Kinder und Enkelinnen von Gastarbeiter*innen in Neukölln. Sie sind selbst geflüchtet vor Krieg und Verfolgung oder haben hier studiert und Berlin lieben gelernt. Wir schätzen diese Vielfalt und lernen täglich – von und miteinander. Uns alle verbindet die Nächstenliebe und der Wunsch, durch unsere Unterstützung und Hilfe der/des Einzelnen wie auch durch politisches Engagement, mit unserer Arbeit einen Beitrag zu leisten, allen hier lebenden Menschen gleichberechtigte Chancen für ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe zu ermöglichen und gemeinsam mit allen ein demokratisches Miteinander in unserer Stadt zu gestalten.
Haben Sie einen Wunsch für die Zukunft der Einrichtungen Ihres Fachbereichs?
Natürlich wünsche ich mir sehr, dass alle Beratungsstellen und Projekte fortbestehen können, auch in Zeiten knapper öffentlicher Kassen. Ich hoffe, dass die Arbeit mit und für Eingewanderte und Geflüchtete im Diakoniewerk Simeon einen hohen Stellenwert behalten wird und damit auch weiterhin aktive Zeichen unserer Diakonie für Menschenrechte und Chancengerechtigkeit, gegen Diskriminierung und Rassismus gesetzt werden.
Und die Verbindung zu den Gemeinden?
ALIX REHLINGER: Kirche und Diakonie gehören zusammen, davon bin ich nicht nur überzeugt. Das habe ich auch so erlebt: Gemeinden haben unsere Ratsuchenden durch Patenschaften, Kirchenasyl oder durch Bereitstellung von Wohnraum unterstützt. Gemeinderäume werden uns für Beratungsstellen oder für Stadtteilmüttertreffen zur Verfügung gestellt. Kreiskirchliche Zuwendungen unterstützen seit Jahren den Fachbereich, da die öffentlichen Gelder nicht alle Kosten finanzieren. Der Kirchenkreis Neukölln hat sich schon frühzeitig aktiv für die Unterstützung der „ausländischen Mitbürger*innen“ eingesetzt und tritt bis heute deutlich gegen Diskriminierung und Rassismus auf. Deshalb bin ich gern Teil dieses Kirchenkreises gewesen und habe u. a. in der Kreissynode und im interkulturellen Beirat mitgearbeitet.
Das Interview führte Ebba Zimmermann, Öffentlichkeitsbeauftragte im Kirchenkreis Neukölln.